Die grüne Fee geht wieder um. Nachdem sie Jahrzehnte ein Leben im Verborgenen führen musste, wird ihr Kult heute wieder öffentlich zelebriert. In den Metropolen dieser Welt, vor allem aber im französisch-schweizerischen Grenzgebiet. Denn hier ist die Heimat der grünen Fee, die sinnbildlich für das berüchtigste Getränk der Welt steht: den Absinth. Bei Absinth denkt man an Künstler im Schaffensrausch. Und an Gewalttäter im Blutrausch – sie alle soll das im Absinth enthaltene Molekül Thujon umgetrieben haben. Auf der Absinth-Route erfahrt ihr die unglaublichsten Geschichten…
Unterwegs auf der Absinth-Route
Doch es waren weniger die realen Gefahren des Absinths, als die Wein- und Bierindustrie, die für das weltweite Verbot sorgten. Das hören Besucher überall auf der „route de l’absinthe“ – einer 46 Km langen, grenzüberschreitenden Themenstraße. Sie verbindet Geschichte und Genuss. Ich bin hier gewandert und habe natürlich auch das ein oder andere Gläschen Absinth getrunken. Die Route wurde 2009 eröffnet und umfasst 80 Standorte: Bars, Restaurants und Destillerien. Aber auch Museen, Manufakturen und den einzigen Trockenspeicher, der die Prohibitionszeit überdauert hat. Der perfekte Startpunkt für eure Genusstour ist Pontarlier.
Übernachtungstipp für die Absinth-Route
In Pontarlier habe ich in einem kleinen, charmanten B & B* übernachtet. Jedes Detail ist hier liebevoll in Szene gesetzt. Alte Holzdielen knarren. Frische Feldblumen duften. Und die Gastgeberin bereitet ein köstliches Frühstück.
Ich habe mich am Frühstückstisch mit Menschen aus aller Welt unterhalten und hatte abends die nettesten Restaurants der Stadt gleich vor der Tür. Wenn ihr etwas Authentisches in der Region sucht und Individualität zu schätzen wisst, wird euch das Maison d’à Côté * gefallen.
Die Welthauptstadt des Absinths
Gäbe es eine Welthauptstadt des Absinths – Pontarlier im französischen Jura würde dieser Titel gebühren. In der Blütezeit gab es in dem Städtchen über 25 Destillerien. Doch das Schicksal so manches Absinth-Trinkers ereilte auch Pontarlier. Von der Euphorie zur Depression – erst von Künstlern und Prominenten aus aller Welt geschätzt, geriet die Stadt in Verruf. Denn der Absinth wurde verteufelt und um 1915 verboten. Dieses Verbot bestand in der Europäischen Union bis 1998. Und Frankreich war das letzte Mitgliedsland, das den Bann aufhob. Nach der langen Durststrecke wird der grünen Fee heute wieder überall in Pontarlier gehuldigt. Vor allem in der letzten verbliebenen Destillerie der Stadt.
10 Uhr morgens das erste Gläschen
Ein intensiver Duft liegt in der Luft. Süß und berauschend. Gläser klirren. Menschen lachen. Und prosten einander zu. Samstagmorgen kurz vor 10 Uhr ist in der Destillerie Guy bereits die erste Besuchergruppe eingetroffen. Das Trüppchen besichtigt andächtig die großen, glänzenden Kupferkessel, in denen der Absinth destilliert wird. Tropfenweise tritt das begehrte Elixier zutage. Lust, es einmal zu probieren? Hier könnt ihr den Absinth bestellen.*
Seit 1890 brennt Familie Guy Schnaps, mittlerweile in fünfter Generation. Mit den kostenlosen Touren betreibt das Unternehmen Imagepflege. „Absinth war niemals ein Gift“ – lauter so auch der Familienslogan. Nach heutigem Erkenntnisstand war es nämlich nicht das Molekül Thujon, das den Menschen Gesundheitsprobleme bescherte, sondern schlicht die große Menge an Alkohol, die sie tranken. Und dazu mancherorts die schlechte Qualität von schwarzgebranntem Absinth.
Leckeres im Käsegeschäft
Heute ist die grüne Fee, wie der Absinth seiner Farbe wegen genannt wird, wieder überall in der Region anzutreffen. Auch an Orten, wo man sie nicht erwartet hätte. Wie dem Käsegeschäft Marcel Petite – unmittelbar am Marktplatz von Pontarlier gelegen. Hier werden den Kunden appetitliche Häppchen serviert. Natürlich alle mit Absinth veredelt. Während der Absinth im Käse ein wenig flüchtig ist, kommt die herbe Wermutnote in der Wurst sehr gut zur Geltung.
Absinth im Dekolleté
Ein Anflug von Lokalstolz ist in Pontarlier zu spüren. Mit viel freiwilligem Engagement und originellen Ideen wollen die Bewohner ihre Region bekannt machen. Etwa mit der Büste der grünen Fee in Pralinenform. Das appetitliche Miniatur-Dekolleté ist mit Schokolade und Absinth gefüllt und wird von der Konditorei Pfaadt just seit dem Tag wieder verkauft, an dem das Verbot in Frankreich fiel.
Und im örtlichen Blumengeschäft werden die Pflanzen des Absinths zu fantasievollen Sträußen gebunden. Der Duft, der von den Pflanzen ausgeht, ist jedenfalls berauschend.
Extratipp: Immer im Juli findet in Pontarlier ein großes Absinth-Festival statt, das den Besuch der Absinth-Route krönt.
Auf der Absinth-Route zu den Schweizer Nachbarn
Erstaunlicherweise befindet sich nur ein kleiner Teil der „Route del Absinthe“ auf französischem Boden. Der ganz überwiegende Teil liegt auf Schweizer Seite im Val-de-Travers.
Die dortigen Eidgenossen sind dem Absinth mindestens genauso zugetan wie ihre französischen Nachbarn. Und kampflos überlässt man den Ruhm den Franzosen nicht. Im Val-de-Travers gibt es an jeder Ecke kleine Privatbrennereien und die unscheinbare Wermut-Pflanze wächst neben duftender Minze und Melisse auf den Feldern. Wie sehr die Schweizer dem Absinth huldigen, habe ich auf der „Fête de l’Absinthe“ im Örtchen Boveresse erlebt.
Viel Lokalkolorit und noch mehr Verkostungen
Überall auf dem Fest wurde ich eingeladen, zu probieren: Die Standbetreiber füllen zuerst Absinth in kleine Becher und geben dann langsam Wasser dazu. Binnen Sekunden trübt sich das Getränk ein, wird geradezu milchig. Und trotz des hohen Alkoholgehalts riecht es intensiv nach Anis, Minze und Wermut. Und danach schmeckt er auch. Die Kräuternote ist immer ein Zeichen von Qualität haben mir die Händler dann auch erzählt.
Trockenspeicher unter Denkmalschutz auf der Absinth-Route
In Boveresse steht auch der letzte historische Trockenspeicher. Alle anderen sind in der Prohibitionszeit abgerissen worden. Im Inneren befindet sich eine kleine Ausstellung: Historische Schwarzweiß-Bildern zeigen ganze Familien, die kniend Unkraut jäten.
Auf dem Speicher hängen große Wermutbündel zum Trocknen im Wind und in den unteren Etagen sind historische Werkzeuge ausgestellt. Daneben erzählen große Schautafeln aus dem beschwerlichen Leben der früheren Dorfbewohner. So erfahre ich, dass die Bauern während der Prohibition eisern am Absinth festhielten – trotz aller Repressalien.
„Kriminelle“ Eidgenossen
Die Schweizer als freigeistige Gesetzesbrecher – das ist genauso überraschend wie die Stimmung auf dem Dorffest. Gut ein Dutzend Musiker spielen laut und ausgelassen auf Trommeln und Trompeten. Guggenmusik heißt das Spektakel. Mit dem Lärm sollte früher der Winter vertrieben werden. Heute dienen die wilden Rhythmen als Untermalung für einen kleinen Absinth-Rausch mit Freunden und Nachbarn. Um zu zeigen, wie sehr die grüne Fee die Region geprägt hat, ist ihr unlängst sogar ein Tempel gebaut worden: In Motiers, dem Nachbarort von Boveresse.
Der Tempel der grünen Fee
Die Wahl des Ortes zeugt vom Humor der Schweizer. Denn untergebracht ist der Absinth-Tempel im ehemaligen Gerichtsgebäude. Bis 2009 gab es hier noch offizielle Gerichtsprozesse. Auf der Anklagebank saßen Schwarzbrenner und -händler, die oft zu empfindlichen Strafen verurteilt wurden. Das „Maison de l’Absinth“, wie das Haus korrekt heißt, ist einerseits Genusstempel, andererseits Museum.
Maison de l’Absinth – Museum der Absinth-Route
Ich bin durch das Museum gestreift und hatte großen Spaß an den Exponaten: Behelfsmäßige Destillierapparate, die an der Badewanne befestigt wurden. Konservendosen, die statt der deklarierten Tomaten Absinth enthalten. Und eine Auflistung verschiedenen Codewörter: „Une bleue“, eine „kleine lee“ oder einen „Tee de Boveresse“ – das alles waren Decknamen, um damals einen Absinth trinken zu können. Denn die Wörter „Absinth“ oder „brennen“ dürften die Menschen nicht in den Mund nehmen. Da sie sonst Gefahr liefen, denunziert und angeklagt zu werden. Worüber die Besucher heute schmunzeln, war in der Prohibitionszeit bitterer Ernst.
Künstler unter Absinth-Einfluss
Der nächste Raum ist den Künstlern gewidmet, die dank des Absinths zu ungeheurer Schaffenskraft, gelegentlich aber auch zu großer Brutalität fähig waren. Während ich die Gemälde betrachte, strömt mir ein intensiver Geruch in die Nase: Wermut, Beifuß, Minze, Zitronenmelisse und Ysop – die heimischen Pflanzen des Absinths wachsen im Museumsgarten. Exportierte Absinth-Zutaten wie Anis, Koriander und Fenchel gibt es getrocknet in kleinen Behältern. Auch die dürfen geöffnet und beschnuppert werden.
Danach zieht es mich zum Herzstück des Maison de l’Absinth: Eine schicke Bar mit langer Theke und Dutzenden Absinth-Flaschen, die sich im Glas spiegeln. Hier erfahre ich, dass jeder Brenner im Tal sein eigenes Geheimrezept hat, das er nicht preis gibt. Ihr möchtet einen der Besten selbst probieren. Hier könnt ihr ihn euch ansehen:*
Wandern auf der Absinth-Route
Nach all dem Hochprozentigen und Kalorienreichen bin ich noch zu einer Wanderung in die wildromantische Natur des Tals gestartet. Nur ein paar hundert Meter vom Maison de l’Absinth entfernt beginnen die dichten Wälder und schroffen Felsen des Val de Travers. Weiche, federnde Wege führen hinein in die Schluchten. Überall wächst Moos – auf umgestürzten Bäumen, im Flussbett und an dessen Ufer. Sonnenstrahlen dringen durch das Laub und lassen das Moos so intensiv leuchten, dass es fast künstlich wirkt. Fast könnte man glauben, dass hier eine grüne Fee hockt.
Weiterführende Artikel
Eine wunderschöne Landschaft, in der der Alkohol eine große Rolle spielt, findet ihr auch im Siebengebirge. Im einzigen Weinanbaugebiet von NRW gibt es Wanderwege, die mitten durch die Reben führen. Dazu pittoreske Dörfer und historische Klöster.
Die Recherchereise wurde von der Region France-Comté unterstützt. Vielen Dank dafür.
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Tanja Praske meint
Liebe Antje,
schwelgen wie … in Frankreich – das ist mal ein wirklich wunderbarer Reisebericht durch mein Lieblingsland – Geschichte und Genuss vereint – klasse! Danke für diesen #KultBlick und danke fürs Mitmachen. So lernte ich deinen Blog kennen, der mir gefällt! Überhaupt kommen so manchen Blogperlen der Teilnehmer hervor – ich entdecke viel Neues und das bereichert mich. Das Feedly wird jetzt definitiv voller!
Herzlich,
Tanja Praske
Antje meint
Liebe Tanja,
ganz herzlichen Dank für diesen wunderbaren Kommentar. Und für die #Kultblick-Initiative – ich habe darüber so viele neue, spannende Themen entdeckt, dass ich mich schon jetzt bereichert fühle.
LG
Antje
Armin König meint
Was für ein wunderbarer Beitrag.
Antje meint
Vielen Dank! Ich freue mich, dass er Ihnen gefallen hat. Die Absinth-Route ist auch wirklich einen Besuch wert.
Genuss Touren meint
Hallo Antje,
nie hätte ich Absinth mit der Schweiz in Verbindung gebracht, war es doch für mich immer ein rein französisches Phänomen. Obwohl – bei meinem letzten Besuch im Vinum in Tübingen war ich auch ganz überrascht, das Getränk dort zu finden. Scheint wieder sehr in Mode zu kommen.
Danke also, für den spannenden Artikel.
Viele Grüße
Daniela
Antje meint
Hallo Daniela,
in der Tat sind die Schweizer immer für eine Überraschung gut. Und zumindest im Jura der grünen Fee innig verbunden. Vielen Dank für dein Lob.
LG
Antje
Archäologisches Museum Hamburg meint
Liebe Antje,
spannend mehr über eine wieder aufblühende Genuss Kultur zu erfahren! Vielen lieben Dank für den sehr ausführlichen und bildlichen Beitrag – da möchte man seine nächste Reise gleich planen 🙂
Schön, so eine ganz andere Perspektive bei #Kultblick dabei zu haben.
Viele Grüße aus dem Archäologischen Museum Hamburg