Aus den Trümmern des alten Le Havre entstand nach dem Zweiten Weltkrieg etwas weltweit Einmaliges: Eine futuristische Architektur – klassenlos und komfortabel. Das, was der französische Architekt Auguste Perret schuf, war neu, andersartig und bei den Alteingesessenen verhasst. Heute ist das Stadtzentrum von Le Havre Weltkulturerbe. Architekturfreunde aus aller Welt kommen in die Stadt, um sie zu bewundern und mittlerweile sind auch die Einwohner stolz auf ihre ungewöhnliche Stadt. 2017 feierte Le Havre seinen 500. Geburtstag – mit einem kulturellen Feuerwerk. Wer Architektur, Kunst und das Meer mag, wird Le Havre lieben.
Boulevards, die Autobahnen gleichen
Meine Architektur-Führung startet am Yachthafen von Le Havre. Nach ein paar einführenden Worten biegt unsere Gruppe um die Ecke und wir stehen auf der Avenue Foch, wo es nur noch drei Farben gibt: Blau, beige und grün. Blau und wolkenlos strahlt der Himmel über Le Havre. Beige schimmern die großen Wohnblöcke an den Seiten der Avenue. Und grün leuchtet ein 15 Meter breiter Rasenstreifen in ihrer Mitte. Perret war bereits damals bewusst, wie wichtig Grünanlagen für das Wohlbefinden der Menschen sind und ließ deshalb überall Parks und Gärten anlegen.
Alleen, Parks und Gärten
Auguste Perret – Architekt, Bauunternehmer und Visionär – hat das moderne Le Havre geschaffen. Sein Auftrag lautete 1945: Wohnraum für rund 60.000 Ausgebombte gestalten. Schnell. Bezahlbar und funktional. Was nach sozialem Wohnungsbau klingt, ist in Wahrheit ein Gesamtkunstwerk. Denn das, was der damals bereits 71-Jährige Architekt im Auftrag von Charles de Gaulle baute, war seiner Zeit weit voraus. Wurde aber gerade deswegen von der Bevölkerung angefeindet.
Beton schimmert in zarten Tönen
Zwischen 1945 und 1954 wuchs eine Betonstadt in den Himmel. Aus Mangel an Baumaterialien hatte Perret sein Team angewiesen, nur dieses eine Material zu verwenden. Beton? Wirklich alles Beton? Ein älterer Herr in unserer Gruppe fragt noch einmal nach. Denn der Beton ist nicht etwa grob und grau, sondern schimmert je nach Lichteinfall in zarten Tönen – ich denke dabei an Vanille, Sand oder Karamell. Und erfahre, dass Perret den Beton mit Glas, Kies und Schutt vermahlen ließ, wodurch eine völlig neue Optik entstand. Dazu kamen bodentiefe Fenster, gusseiserne Balkone und geometrische Muster. Doch erst als die UNESCO das Stadtensemble 2005 zum Welterbe erhob, änderte sich die öffentliche Meinung. Und auf einmal trafen selbst aus Paris Besucher ein.
Kunst auf der Avenue Foch
Selbst wer die Champs Elysées gewohnt ist, muss der Avenue Foch Respekt zollen. 80 Meter ist sie breit. Straßenbahnen gleiten leise in ihrer Mitte über Gleise, die in dem gepflegten Rasen kaum zu sehen sind. Die Waggons sind sandfarben wie die Häuser. Statt greller Reklame schmücken geometrische Muster ihre Seiten. Und überall steht Kunst entlang der Avenue.
Musterwohnung mit Charme
Wenige Meter weiter schließt der Guide die Tür einer Wohnung auf. Erwartungsvoll treten wir ein und finden uns in den 50er Jahren wieder. Die Musterwohnung wurde im Oktober 1950 fertig gestellt und ist repräsentativ für die Bauweise von Perret. Dank großer Fenster flutet Licht durch die gesamte Wohnung. Auf beiden Seiten des Appartements liegen großzügige Balkone. Dazu kommen bewegliche Trennwände, die sich verschieben lassen, so dass die Raumgröße flexibel ist.
Die Küche mit dem bauchigen Kühlschrank und dem zitronengelben Utensilien ist heute noch oder schon wieder modern. Denn auch beim Interieur war Perret seiner Zeit weit voraus.
Kirchbau zu Le Havre
Die letzte Station der Führung ist zugleich ihr Höhepunkt: Die katholische Kirche St. Joseph. Sie gilt als Perrets Meisterwerk und ist das Wahrzeichen der Stadt. 107 Meter ragt der achteckige Laternenturm über dem flachen Kirchenbau in die Höhe. Von außen sind die insgesamt 12.768 kleinen weißen Fenster im Beton kaum sichtbar; sie wirken eher wie ein weiteres geometrisches Muster.
Im Inneren aber stecken farbige Gläser hinter jedem einzelnen Fenster: Sie sind gelb, orange, rot, lila, blau und grün, so dass ein buntes Lichtermeer in der Kirche erstrahlt. Die offizielle Eröffnung 1957 erlebte der visionäre Architekt zwar nicht mehr. Doch das, was Perret in Le Havre geschaffen hat, inspiriert noch heute die Menschen.
Hoteltipp für Le Havre
Unmittelbar neben der Kirche St. Joseph liegt ein kleines, charmantes Hotel, das ich als sehr passend für den Aufenthalt in der Stadt empfunden habe: Das Hotel Vent d’Ouest* ist ein in braun und beige Tönen gehaltenes Boutiquehotel, in dem sich viele nautische Relikte finden. Im Keller gibt es einen schönen Spa und einen kleinen Fitness-Raum. Die Preise sind für das Gebotene moderat – wie generell in Le Havre. Hier könnt ihr mehr erfahren und ggf. auch buchen.*
Geheimtipp für Le Havre
Pierre Lenoir Vaquero hat einen französischen Vater und eine spanische Mutter. Und wuchs deshalb in Madrid und Paris auf. In Le Havre ist er der Poesie des Betons, wie Perret seine Arbeit einst nannte, sofort erlegen. In seinen Zeichnungen spielt er mit der geometrischen Struktur der Stadt. Ihren endlosen Boulevards, den rechteckigen Plätzen und einheitlichen Gebäuden. Vier Bücher mit fantasievollen Illustrationen hat Pierre Lenoir Vaquero veröffentlicht. Da er von seiner Arbeit als Illustrator und Fotograf nicht leben kann, betreibt er da kleine Atelier „La Cave à Bières“, wo sich Bierflaschen mit Kunstwerken mischen.
Adresse: 1 Rue des Gobelins, 76600 Le Havre (es gibt keine Homepage, der Besuch lohnt sich aber definitiv!)
Künstler und Bierverkäufer
Pierre Lenoir Vaquero veranstaltet hier Konzerte, Lesungen und Bierverkostungen. In den Regalen stehen hunderte Flaschen mit bunten Etiketten. Trappistenbier aus Belgien neben bayrischem Weißbier und regionalen Erzeugnissen. Dazwischen Poster und Postkarten mit seinen Zeichnungen von Le Havre. Einen Ehrenplatz nimmt sein neuestes Buch ein. Es heißt: Vulkan in der Stadt.
Der Vulkan von Le Havre
Der Vulkan von Le Havre ist neben der Kirche St. Joseph das meist fotografierte Gebäude der Stadt. Ein strahlend weißer Aschekegel, der von weitem sichtbar auf einem freien Platz thront. In den 70er Jahren vom brasilianischen Architekten Oscar Niemeyer erbaut, dient es heute als Kulturzentrum.
Fantastische Kunstinstallationen
Retroperspektive aus dem Jubiläumsjahr: Spaziergänger, die vom Bahnhof kommend über die federnde Holzbrücke zum Yachthafen gehen, stehen beispielsweise plötzlich vor „Love, Love“: Einem Werk von Julien Berthier. Das schmucke Segelboot treibt Heck oben im Hafenbecken.
Tempel der 5000 Wünsche
Die ungewöhnlichste Installation ist der Tempel der 5000 Wünsche. Er schwimmt auf einer Plattform im Wasser der Seine, die bei Le Havre ins Meer fließt. Sonnenlicht tanzt um den roten Kubus herum und langsam nähert sich ein Ruderboot der Plattform. Es bringt Besucher zum Tempel, die ihre Wünsche an Bambuspflanzen hängen dürfen, die den Tempel umgeben.
Dadurch entsteht ein buntes Bild, wie man es von den Gebetsfahnen in Tibet kennt. Und sobald sich die Türen des Tempels öffnen, schallt laute Tanzmusik heraus.
Innen ist der kleine Tempel komplett verspiegelt und der Boden besteht aus Glas. Darunter schimmert das Wasser der Seine. Angespornt von den wilden Klängen wippen die Ersten mit den Füßen. Andere zucken im Rhythmus der Musik. Und schließlich tanzen die Menschen.
Der Tempel der 5000 Wünsche und alle anderen Kunstinstallationen sind noch bis zum 8. Oktober in Le Havre zu bewundern. So lange währt ein Sommermärchen in der Normandie – Le Havre.
Die Recherchereise erfolgte mit freundlicher Unterstützung von Atout France und der Region Normandie.
* Bei den Werbe-Links handelt es sich um sogenannte Affiliate-Links. Das sind Partnerprogramme mit Unternehmen – wenn ihr über den Link auf meiner Seite ein Hotel bucht oder ein Buch kauft, bekomme ich eine kleine Provision. Für euch ist es keinen Cent teurer, aber für Blogger sind diese Einnahmen wichtig, um den Blog überhaupt betreiben zu können. Also: Vielen Dank!
Steffi meint
Geschmäcker und Ohrfeigen sind ofensichtlich verschieden: Selten so eine häßliche Stadt gesehen! Spricht mich überhaupt nicht an! Bis auf das Licht in der Kirche – das ist wirklich zauberhaft! Ich denke aber schon, dass Le Havre sehenswert ist, es soll sich doch jeder seine eigene Meinung bilden!
Liebe Grüße
Steffi
Antje meint
Hallo Steffi,
ja, Geschmäcker sind verschieden. Ich war von der Stadt völlig „geflasht“ und habe vor Ort Dutzende Architekturfreunde aus aller Welt getroffen, denen es genauso ging. Es werden ja diverse Führungen zu dem Thema angeboten – auch denke ich, dass die Anerkennung als UNESCO Weltkulturerbe nicht ohne Grund geschehen ist. Vielleicht muss man es in natura erleben.
Vielen Dank für deinen Kommentar,
Antje
Barbara meint
Toller Bericht und ich liebe Le Havre – so eine inspirierende und lebendige Stadt! Es ist auch die besondere Atmosphäre und die besondere Geschichte, die hinter dem Architekturkonzept steckt, was LeHavre absolut sehenswert macht.
Liebe Grüße
Barbara
Antje meint
Das sehe ich genauso. Danke für das Lob!
Annette meint
War auf der Fahrt in die Bretagne für einen Tag in LeHavre: nach anfänglicher Skepsis, kam nach und nach echte Begeisterung auf für die Stadt. Vielen wird sie so wie mir auch auf den ersten Blick hässlich erscheinen, aber das außergewöhnliche Baukonzept erschließt sich beim Rundgang durch die Stadt. In fünfzig Jahren wird man nach LeHavre pilgern wie heute nach Venedig 😉
Antje meint
Vielen Dank für Ihren Kommentar. Das haben Sie sehr schön beschrieben – ich denke auch, dass künftige Generationen Le Havre noch mehr schätzen werden. Mich hat die Stadt begeistert, weil sie ganz anders und immer wieder überraschend ist.